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Ballett von John Neumeier nach Tennessee Williams

Die Glasmenagerie

Mit dem Drama "Die Glasmenagerie" legte Tennessee Williams den Grundstein für seinen Ruhm als einer der bedeutendsten US-Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Obwohl der Erfolg dieser Produktion am Broadway für den 33-jährigen Autor völlig unerwartet war, hatte er mit großer Zielstrebigkeit auf die Premiere hingearbeitet. Williams hatte den Anspruch, mit seinem Drama eine neue Form des Theaters zu zeigen. Er wollte das Wesen des Menschen greifbar machen, indem er die Szenen als "Memory Play" aus der Perspektive persönlicher Erinnerungen erzählte.

VOR DER AUFFÜHRUNG ZU LESEN
Von John Neumeier

Als ich 17 Jahre alt war, erlebte ich ein Schauspiel, "Die Glasmenagerie", in einem Theater jener Universität, die ich bald darauf besuchen sollte. Mir war damals nicht bewusst, dass der Regisseur, Father John Walsh S. J., der bedeutendste Mentor meines Lebens werden würde – auch ahnte ich nicht, dass Joan Schwartz, die Laura spielte, mir einmal so vertraut sein würde wie eine wirkliche Schwester.

Der starke Eindruck von Tennessee Williams' Drama blieb mir unvergesslich. Über die Jahre habe ich immer wieder überlegt, wie daraus ein Ballett werden, wie man Tennessee Williams' außerordentlich bewegende Dichtung in sinnstiftende Bewegungen übertragen könnte. Letztlich waren es Alina Cojocaru und unsere gemeinsame Arbeit an der Kreation von "Liliom", die mich davon überzeugten: Jetzt ist der richtige Zeitpunkt gekommen.

Die größte Herausforderung bei der choreografischen Orchestrierung dieses Dramenquartetts ist Laura. Wie soll man ein abendfüllendes Ballett choreografieren, dessen zentrale Figur gehbehindert ist? In der jetzigen Probenphase steht die Fragestellung immer noch im Vordergrund – obwohl sich durch die Erfahrung der Kreation eine besondere Tanzsprache herausgebildet hat.

Die Geschichte ist sehr einfach. Es geht um eine Familie. Die Konflikte, die Aggressionen und die Liebe einer Familie, die um den Küchentisch sitzt. Eine Mutter, Amanda, die verlassen ist, ihr künstlerisch veranlagter Sohn Tom, der in einer Schuhfabrik arbeiten muss, und ihre fragile, verträumte Tochter Laura Rose, die kleine Glastiere liebt – besonders ein Einhorn. Die Sorgen dieser drei Menschen richten sich zunehmend auf eine Art Retter aus – den "Gentleman Caller" (Verehrer) – Jim O’Connor.

Der eng begrenzte Raum ihrer Wohnung in St. Louis scheint die Intensität der Hoffnungen, Sehnsüchte und Träume jeder einzelnen Figur kaum aufnehmen zu können. Diese Hoffnungen, Sehnsüchte und Träume – kaum konkret notiert, sondern eher zwischen den Zeilen von Tennessee Williams‘ brillanter dramatischer Dichtung zu finden – bilden die (wortlose) Inspiration meiner Choreografie.

Tennessee Williams nennt sein autobiografisches Drama ein "Spiel der Erinnerungen". Die gesamte Handlung und alle Emotionen sind Erinnerungen aus Tom/Tennessees Vergangenheit. In meinem "Ballett der Erinnerungen" sind Schauspiel und Biografie, Vergangenheit und Gegenwart zeitgleich präsent und wirken aufeinander ein.


Musik: Charles Ives, Philip Glass, Ned Rorem und Fragmente der Musik erwähnt in Tennessee Williams' Schauspielen
Choreografie, Bühnenbild, Licht und Kostüme: John Neumeier
Filme: Kiran West

2 Stunden 30 Minuten | 1 Pause
1. Teil: 80 Minuten, 2. Teil: 45 Minuten

URAUFFÜHRUNG:
Hamburg Ballett, Hamburg, 1. Dezember 2019

ORIGINALBESETZUNG:
Laura Rose Wingfield: Alina Cojocaru
Amanda Wingfield: Patricia Friza
Tom Wingfield: Félix Paquet
Jim O'Connor: Christopher Evans
Tennessee: Edvin Revazov
Das Einhorn: David Rodriguez
Malvolio: Marc Jubete

GASTSPIELE:
2023 Chicago 2024 Baden-Baden

Das Programmheft ist in unserem Onlineshop erhältlich

[MEHR]
EIN BALLETT DER ERINNERUNGEN
Von John Neumeier

Tennessee Williams nennt sein autobiografisches Drama ein "Spiel der Erinnerungen". Die gesamte Handlung und alle Emotionen sind Erinnerungen aus Tom/Tennessees Vergangenheit. In meinem "Ballett der Erinnerungen" sind Schauspiel und Biografie, Vergangenheit und Gegenwart zeitgleich präsent und wirken aufeinander ein.

Auf einem Schiff wird der erfolgreiche Maler, bekannt als Tennessee, von Erinnerungen an seine Familie verfolgt, die er verlassen hat, wie schon sein Vater vor ihm.

In der Erinnerung bildet er die Wohnung in St. Louis nach. Er spürt die Präsenz seiner dominanten Mutter Amanda, seiner zarten, gehbehinderten Schwester Laura Rose und erinnert sich an sich selbst als "Tom", ein verträumtes Kind und unsicheren jungen Mann. Er denkt an Ozzie, ihr bewundertes Kindermädchen, das die Kinder mit Geistergeschichten verzauberte und entzückte und das mit dem Geschenk eines Kristallsterns die "Glasmenagerie" seiner Schwester anregte.

Tennessee ruft sich den Familientisch in Erinnerung – Zentrum von Zuneigung und Begegnungen, aber auch von Konflikten, Sehnsüchten und Träumen.

Amanda, die Frauenmagazine verkauft, um ihre Familie zu unterstützen, lebt in den unwirklichen Erinnerungen der Vergangenheit, bestehend aus Rasenflächen voll von geliebten Narzissen und ihren zahlreichen Verehrern.

Tom hasst seinen Job in der Continental Schuhfabrik, liebt es zu zeichnen und sehnt sich verzweifelt nach einem Ausweg und der Freiheit eines Künstlerlebens.
Laura Rose ist gezwungen, das Rubican"s Business College zu besuchen, aber oft flüchtet sie sich in einen Film und findet Geborgenheit in ihrer Sammlung kleinster Glastiere – besonders bei ihrem Liebling – dem Einhorn.

Amanda ist fest entschlossen, Laura Rose zu verheiraten. Als sie Toms Skizze seines Kollegen Jim O"Connor findet, malt sie sich ihn als idealen Verehrer für Laura Rose aus. Laura Rose erinnert sich an Jim als das Basketball­Idol aus der High School, das sie heimlich angehimmelt hat.

Der Verehrer trifft ein. Aber – der Abend endet schlimm, kummervoll. Jim hat eine Verlobte, Betty.

Obwohl er seine Vergangenheit nochmals durchlebt, kann Tennessee die Schuldgefühle gegenüber seiner Schwester, die er verließ, nicht vertreiben. In einer Welt, die durch das lodernde Chaos des 2. Weltkriegs geblendet ist, wünscht er sich, Laura Rose würde ihre Kerzen ausblasen – die Kerzen der mit ihr verbundenen Erinnerung ...

Übersetzung: Jörn Rieckhoff

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