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Gastspiel

Die Geburt eines Tanzfestivals

Das Festspielhaus Baden-Baden lädt John Neumeier jährlich dazu ein, die Bühnen der Weltkulturerbe-Stadt mit Tanz und Ballett zu beleben
Von Jörn Rieckhoff

Es müssen dramatische Tage gewesen sein, als das Hamburg Ballett am 4. und 5. Juli 1998 zum ersten Mal im neuen Festspielhaus Baden-Baden gastierte, dem mit 2.500 Plätzen größten Opernhaus Deutschlands. Trotz hochkarätiger Gastensembles fand das künstlerische Programm zunächst kaum Anklang beim Publikum, sodass die Zeitungen Anfang Juli ein Defizit von drei Millionen D-Mark vermeldeten – keine drei Monate nach der Eröffnung. Nur zwei Tage vor dem Auftritt des Hamburg Ballett wurde in einer Nachtsitzung entschieden, die bisherige Geschäftsführung zu suspendieren.

In dieser Situation brauchte der neue Festspielhaus-Chef Andreas Mölich-Zebhauser unbedingt eine Erfolgsmeldung, und genau die lieferte das Hamburg Ballett umgehend mit zwei begeisternden Aufführungen von John Neumeiers Ballett Bernstein Dances, wie der legendäre Kritiker Horst Koegler in der Stuttgarter Zeitung festhielt: "Man traut seinen Augen nicht! Ein ... volles Haus – mehr als zweitausend zahlende Besucher – ein buntgemischtes Publikum, gediegene Eleganz, erwartungsvolle, freudige Stimmung, am Schluss ausdauernde Ovationen."

Residenz-Ensemble
Das Erlebnis dieses Sommerwochenendes wurde zum Grundstein einer Erfolgsgeschichte, die Jahrzehnte überdauern sollte. Andreas Mölich-Zebhauser gelang es, das Festspielhaus auf Erfolgskurs zu bringen und es 21 Jahre in der Spur zu halten. Schon bald waren die jährlichen Gastspiele des Hamburg Ballett aus dem Saisonprogramm nicht mehr wegzudenken. Nach und nach konnte sich das Ballett-Publikum Süddeutschlands einen umfassenden Überblick über John Neumeiers vielfältige Werke verschaffen: Seit 1998 hat das Hamburg Ballett in Baden-Baden 34 verschiedene, abendfüllende Produktionen aufgeführt. Ab 2004 wurden die Gastspiele zudem ergänzt um Ballett-Werkstätten, in denen John Neumeier seine künstlerische Vision wie auch ganz praktische Fragen seines Arbeitsalltags auf unterhaltsame Weise erläutert, eindrucksvoll kombiniert mit getanzten Szenen seines Ballettensembles.

Für John Neumeier war es eine schöne Erfahrung zu erleben, wie Baden-Baden sich zur Residenzstadt des Hamburg Ballett für Freunde und Fans aus Süddeutschland, dem benachbarten Frankreich und der Schweiz entwickelte. Im Vordergrund aber stand für ihn, dass die Gastspiele auch künstlerisch reizvoll und ergiebig waren. Wiederholt hat er betont, dass die im Vergleich zur Hamburgischen Staatsoper grundverschiedene und viel breitere Bühne ihn dazu inspirierte, seine Werke zu überdenken. Auch wenn er die Choreografie nicht jedesmal neu erfand, konnten die Anpassungen für die einzelnen Tänzerinnen und Tänzer beispielsweise bedeuten, dass sich die Bewegungsenergie einer Szene intensivierte, um die größere Bühne auszufüllen, oder dass Sequenzen spiegelverkehrt zu tanzen waren. Am Ende dieser kreativen Aneignung standen stets Aufführungen, deren Frische und Intensität das Publikum von den Stühlen riss – begeisternd wie ein Gemälde unmittelbar nach einer sorgfältigen Restaurierung.

SWR-Aufzeichnungen
Die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Festspielhaus und die kreative Atmosphäre der Gastspiele in Baden-Baden führten dazu, dass John Neumeier einzelne Ballette wie Tod in Venedig teilweise im und für das Festspielhaus kreierte. Der SWR würdigte das Engagement des berühmten Choreografen, indem der Sender dieses Ballett während eines erneuten Gastspiels 2004 im Festspielhaus aufwendig verfilmte. Im darauffolgenden Jahr gelang es dem Sender zudem, ein berührendes Zeitdokument für den Film festzuhalten: Der 66-jährige John Neumeier tanzte im Festspielhaus ein letztes Mal die Figur des Christus in seinem Ballett Matthäus-Passion.

In den vergangenen Jahren konnte das Hamburg Ballett die Tradition der SWR-Aufzeichnungen im Festspielhaus mit zwei markanten DVD-Einspielungen wieder aufgreifen. Im Beethoven-Jahr 2020 erschien John Neumeiers Ballettfilm Beethoven-Projekt, der für den Preis der Deutschen Schallplattenkritik nominiert wurde. In diesem Jahr folgte die Veröffentlichung seines Balletts Ghost Light mit dem Pianisten David Fray – ein abendfüllendes Ensemble-Ballett aus dem ersten Corona-Sommer, dessen Einspielung mit dem Opus Klassik 2021 in der Kategorie "Innovatives Konzert" ausgezeichnet wurde.

Ein Festival mit Zukunft
Benedikt Stampa, der seit zwei Jahren die Geschicke des Festspielhauses leitet, hat von Beginn an auf die Vertiefung der künstlerischen Partnerschaft mit John Neumeier und dem Hamburg Ballett gesetzt, symbolisiert auch durch die Einladung der Ballett-Oper Orphée et Eurydice als Eröffnungsproduktion seiner Intendanz. Im Corona-Herbst 2020 gelang es zudem, mit Ghost Light erneut eine Hamburg Ballett-Produktion als Spielzeitauftakt zu präsentieren. Aufgrund der stark ausgedünnten Saalkapazitäten machte John Neumeier eine der Gastspielaufführungen sogar als aufwendig produzierten Livestream für ein weltweites Publikum zugänglich.

John Neumeier und Benedikt Stampa haben sich durch die massiven Einschränkungen des Kulturbetriebs im Zuge der Pandemie nicht entmutigen lassen. Beide begriffen die Krise als Chance zur Veränderung und planten, die jährliche Residenz des Hamburg Ballett zu einem eigenen Festival auszubauen, dessen Ausrichtung und künstlerisches Programm in den Händen von John Neumeier liegt. Mit dieser strategischen Ausrichtung positioniert sich das Festspielhaus auch in aktuellen gesellschaftlichen Debatten: "Das um sich selbst rasende Tourneekarussell ist nicht unsere Zukunft, weder künstlerisch noch ökologisch", so Benedikt Stampa.

Das Programm in diesem Oktober gibt einen Vorgeschmack darauf, in welche Richtung John Neumeier das neue Festival entwickeln wird. Neben traditionelle Produktionen im Festspielhaus – eine Ballett-Werkstatt sowie Tod in Venedig und Ein Sommernachtstraum – stellt er weitere Tanz- und Ballettaufführungen an ungewöhnlichen "Locations": Das Bundesjugendballett tritt mit einem Bach-Programm in der Akademie-Bühne auf, die Abschlussklassen der Ballettschule des Hamburg Ballett zeigen im Museum Frieder Burda teils preisgekrönte Choreografien, die sie für den neu eingeführten Young Creation Award des Prix de Lausanne 2021 entworfen haben. Komplettiert wird das diesjährige Programm mit einem hochkarätigen Programm im Theater Baden-Baden. Star-Ballerina Alessandra Ferri tanzt mit dem ehemaligen Ersten Solisten des Hamburg Ballett Carsten Jung das Ballett L'Heure Exquise von Maurice Béjart, dessen Neueinstudierung unter anderem vom Ravenna Festival und dem Royal Ballet koproduziert wurde.

Für Benedikt Stampa ist ganz klar: Das Programm 2020 ist nur ein Vorgeschmack auf den künstlerischen Weg, den das Festspielhaus mit John Neumeier in den kommenden Jahren gehen will. Sein Optimismus und seine Aufbruchsstimmung sind regelrecht ansteckend: "Machen wir uns auf, gemeinsam mit dem großen Choreografen John Neumeier Trends und Talente im Tanz zu entdecken!"

HAMBURG BALLETT
Festspielhaus Baden-Baden
Ballett-Werkstatt
1. Oktober 2021
Tod in Venedig
2. und 3. Oktober 2021
Ein Sommernachtstraum
8., 9. und 10. Oktober 2021

BALLETTSCHULE DES HAMBURG BALLETT
Museum Frieder Burda, Baden-Baden
Absprung
4. Oktober 2021

BUNDESJUGENDBALLETT
Akademiebühne Baden-Baden
John's-BJB-Bach
7. und 8. Oktober 2021

>> Festspielhaus Baden-Baden
 

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