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Ballett von John Neumeier

Winterreise

John Neumeiers Ballett handelt vom Verlust des Vertrauten und einer extremen Form von Exil: dem Exil in sich selbst, verloren gegangen mitten in der Welt. Schuberts "Winterreise" wird in der vielbeachteten Interpretation von Hans Zender wiedergegeben.


Musik: Hans Zender, Franz Schubert – Schuberts "Winterreise" eine komponierte Interpretation für Tenor und kleines Orchester
Choreografie und Inszenierung: John Neumeier
Bühnenbild und Kostüme: Yannis Kokkos

1 Stunde 40 Minuten | keine Pause

URAUFFÜHRUNG:
Hamburg Ballett, Hamburg, 16. Dezember 2001

ORIGINALBESETZUNG:
Silvia Azzoni
Joëlle Boulogne
Laura Cazzaniga
Natalia Horecna
Galien Johnston
Niurka Moredo
Adéla Pollertová

Otto Bubenícek
Yukichi Hattori
Carsten Jung
Alexandre Riabko
Lloyd Riggins
Sébastien Thill
Ivan Urban

[MEHR]
Irritierende Aktualität

Es gibt Dinge oder Worte, die einen faszinieren, ohne dass man genau weiß, was sie bedeuten, was sich dahinter verbirgt. Es geht mir zum Beispiel beim "Wintermärchen" so, ein Titel, der mich neugierig macht, der mich anrührt, dabei ist es eines der wenigen Stücke von Shakespeare, das ich immer noch nicht gelesen habe Bei der "Winterreise" war das ganz ähnlich. Ich weiß noch, wie Jürgen Rose erzählte, dass er seiner Bühnenbildklasse die Aufgabe gestellt hatte, die "Winterreise" bildlich zu Schuberts Musik zu gestalten. Es ist ein Stück, das sich aus einer Reihe von Metaphern zusammensetzt, die eigentlich alles zulassen und die doch ein Ganzes bilden, obwohl so schwer eine eindeutige Richtung erkennbar ist. Jetzt, wo ich mich intensiv mit diesem Stoff und dieser Musik beschäftige, verstehe ich den Reiz der Aufgabe für eine Klasse, in der sich verschiedene Menschen mit diesem Thema auseinander setzen. Dennoch hatte ich die "Winterreise" nie als ein mögliches Projekt für mich gesehen. Bis ich vor einigen Jahren durch Zufall, während einer Pause der Proben für das Neujahrskonzert in Wien in einem Plattengeschäft stöberte und auf Hans Zenders Musik "Schuberts Winterreise" stieß, er nennt sie eine komponierte Interpretation. Es war seine Eigene Einspielung mit dem Ensemble Modern.

Zender bietet seine 'Interpretaion' des Schubertschen Liederzyklus als eigenständiges Werk an. Dieser Begriff der Interpretation ist mir sehr wichtig. jederman weiß, wie unterschiedlich eine Interpretation je nach Stimmung ausfällt. Ich erinnere mich gut an eine Ausstellung chinesischer Kunst, die Kalligrafien aus der Verbotenen Stadt zeigte. Dort wurde erklärt, dass das Wichtige beim Schreiben dieser traditionellen Symbole nicht das Zeichen an sich sei, sondern der Ausdruck, den der Malende seinem Werk, je nach Stimmungslage, gibt. Mich fasziniert der Gedanke, dass man so etwas Abstraktem, wie einem Schriftzug, seine eigene Interpretation verleiht, die das fertige Werk bestimmt. Kalligrafie bildet nicht nur ein Wort ab, sondern stellt primär den Menschen vor, der es geschrieben hat. Er macht das Wortzeichen durchlässig.

Nach dieser Tranzparenz suche ich bei meiner choreografischen Interpretation der "Winterreise". Mir geht es nicht darum, neue Schritte zu erfinden, die das Publikum verblüffen, ich möchte, Gedanken, die mich bewegen, äußern, Gefühle durchscheinen und die innere Stimmung anklingen lassen.

Für den Raum, in dem unsere "Winterreise" sich ereignet, haben Yannis Kokkos und ich viele mögliche Versionen eines Bühnenbildes durchgespielt. Ganz am Anfang hatten wir einmal an Caspar David Friedrich, einen Zeitgenossen Schuberts, und seine magischen Naturbilder gedacht, jene sich in unendliche Ferne auflösenden Landschaften, die das Auge in die Tiefe ziehen. Natur als innere Landschaft – wie in der "Winterreise": Natur echot den Menschen, der Mensch spiegelt sich in ihr und sie wandelt und verändert ihn. Da wir, wie Hans Zender in seiner aufregend neu klingenden Interpretation, die "Winterreise" nicht von uns weg sondern ganz zu uns hin rücken wollten, in unsere Zeit, haben wir diese Idee wieder verworfen. Schuberts Liederzyklus ist nicht romantisch, "it's modern and it's very present".

Auf der Suche nach einer heutigen Identität, sind wir auf das Werk eines zeitgenössischen bildenden Künstlers gestoßen, auf Christian Boltanskis in Schachteln verpackte, zu einer Mauer aufgeschichteten, gesammelten 'verlorenen' Menschen. Die doppelte Wand aus Menschenportraits, die unseren Raum der "Winterreise" definiert, ist sicher davon ein Nachhall: Bilder der Tänzer und ihrer Angehörigen, Fotos aus der Kindheit, Fotos, in denen die Zeit gefroren ist, ein Raum der Gegenwart und der Erinnerung.

Einmal auch haben wir uns gefragt, sollten wir nicht den Dichter Wilhelm Müller – und Schubert – wörtlich nehmen, die Texte bildlich doppeln und alle benannten und besungenen Wesen und Dinge als Objekt auf die Bühne stellen, bis hin zum ausgestopften Hund. Es mutet vielleicht naiv an, war aber ein spannender Gedanke und durchaus nah an volksliedhaftem Ton und raffinierter Einfachheit des Originals. Allerdings wäre es sehr voll geworden auf der Bühne. Das hat uns wieder davon abgebracht.

Schließlich tauchte das Bild einer Telefonzelle auf, einsam auf weiter Flur, das schnell in uns ein Gefühl der Isolation und des Ausgesperrtseins weckt, ein Synonym für Unterwegssein und gleichzeitig ein Signal für den tiefen Wunsch nach Kommunikation, Nähe, inniger Zwiesprache. Leider geht heute, wo jeder ein Handy besitzt, eine solche Idee nicht mehr auf. Geblieben ist, als Relikt, eine moderne, nüchterne Straßenlaterne und mit ihr die Assoziation von Unwirtlichkeit und auf der Straße sein – jenem Zustand, wie ihn der "Leiermann" verkörpert.

Nie hatte ich daran gedacht, den Schubertschen Wanderer von einem einzelnen Tänzer verkörpern zu lassen, immer sah ich mehrere Menschen vor mir, viele Personifikationen, um verschiedene Möglichkeiten auszuloten – wie es die einzelnen Lieder des Zyklus' tun, sie alle sind Facetten einer einzigen Metapher. Ich wollte Menschen, die sich unterschiedlich bewegen und die Unterschiedliches bewegt.

Jetzt, mitten im Prozess des Choreografierens, merke ich, dass ich im Grunde das Bedürfnis nach einer sehr kargen, fast minimalen Lösung habe, nach einer Stille und Leere, die Raum schafft. Nicht, dass ich mich ausgebrannt fühlte und mir nichts einfiele. Ich spüre, dass etwas in mir sich nur ganz reduziert und konzentriert auf diese Musik bewegen möchte – ich, der ich mich als Choreograf gern viel bewege, viel tanze … Ich suche nach etwas Körperlichem, durch und durch Physischem – nicht nach Schritten, Bewegungen, Tanzfolgen. Ich suche nach etwas ganz und gar Realem, etwas Wirklichem, oder würde man auf Deutsch 'wahrhaft' dazu sagen?

Choreografieren ist Handwerk, aber darüber hinaus die Suche nach neuen Wegen: Choreografieren heißt für mich, 'unschuldig und aufrichtig' einer inneren Vision zu folgen – nicht sich etwas ausdenken, sondern Fragen aufwerfen, physische Fragen, und sich Aufgaben stellen, die es zu lösen gilt. Was geschieht mit dieser Musik, wenn etwa jemand in Hut und Mantel und mit einem Schirm auf einen anderen Jemand trifft, auf einen kleinen Menschen mit einer Brille und einem viel zu großen Pullover. Das wäre eine mögliche, choreografisch eigenartige Ausgangssituation. Sie trägt ein gewisses körperliches Potential in sich, transportiert gleichzeitig auch "Unkörperliches" und erzählt von etwas, das wir nur ahnen.

Je tiefer ich in die "Winterreise" eintauche, umso mehr fasziniert mich Hans Zenders Konnotation, die Schuberts Musik ihre Härte und die scharfe Kontur zurückgibt, die sie ursprünglich für die Ohren der Zeitgenossen besaß. Schubert selbst sprach von einem "Zyklus schauerlicher Lieder", deren Komposition habe ihn "mehr angegriffen, als das je bei anderen Liedern der Fall war". Hans Zender zeigt die Brüche auf, vergrößert die Kontraste, verschärft die Akzentuierungen, sodass für uns die "Winterreise" wieder so ungewohnt und wild klingt wie das Original zur Zeit seiner Entstehung.

Kurz bevor ich ein neues Ballett zu choreografieren beginne, höre ich mir zur eigenen Vorbereitung noch einmal die Musik an und schreibe meine Assoziationen auf, so auch diesmal. Jetzt war es allerdings ein doppelter Vorgang. Lied für Lied hörte ich mir erst Schubert und dann die Fassung von Zender an und notierte, jeweils gesondert, meine Eindrücke und Gedanken. Eigentlich hatte ich geplant, Teile der Choreografie auf die ursprüngliche Musik zu stellen und danach auf die Zendersche Version zu übertragen. Manchmal bringt ein solches Vorgehen überraschende Resultate. Bewegung und Musik laufen nicht ganz synchron, weder in ihrem äußeren noch in ihrem inneren Verlauf, sie haben verschiedene Stimmungen, Rhythmen und Farben. Unterschwellig spürt man die Spannung, ohne die unterschiedliche Entstehung und Herkunft wahrzunehmen. Das kann sehr reizvoll sein. In der "Winterreise" bin ich diesen Weg dann doch nicht gegangen, zu sehr hat mich Zenders Interpretation gefangen genommen. Es wäre interessant, wenn das Ballett ganz fertig ist, einmal zu versuchen, die Choreografie auf die Schubertsche Musik zu tanzen. Was geschieht? Entstehen neue Zusammenhänge, neue Brüche? Ist es spannender? Ist es anders? Und erinnert es in irgendeiner Form an das, was ich mir ganz am Anfang beim Anhören der Musik notierte?

Die "Winterreise" war schon lange für diesen Herbst und Winter 2001 geplant, doch durch die Ereignisse, die in Folge des 11. September die Welt verwirrt und unser Leben irritiert haben, hat sie eine ganz andere Aktualität gewonnen. Es ist der Verlust des Vertrauten und auch vielleicht des Vertrauensvollen, den wir so stark spüren, damals wie heute. Irgendwie ist es, als fühle man Symptome, aber kenne die Krankheit nicht. Die "Winterreise" konfrontiert uns mit einer sehr extremen Form von Exil … dem Exil in sich selbst, verloren gegangen, mitten in der Welt.

John Neumeier

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