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Ballett von John Neumeier – Drei choreografische Gedichte über ein mythisches Thema

Sylvia

VOR DER AUFFÜHRUNG ZU LESEN
von John Neumeier (1997)

Eigentlich kommt dem Ballett "Sylvia", das im französischen Original den Zusatz "ou La Nymphe de Diane" trägt, eine wichtige Rolle in der Ballettgeschichte zu, auch wenn es heute weit seltener gespielt oder neu inszeniert wird als etwa "Coppélia", Léo Delibes’ andere große Ballettmusik. Die Uraufführung von "Sylvia" in der Choreografie von Louis Mérante 1876 an der Pariser Oper war die erste Kreation im neu gebauten Haus, dem Palais Garnier. Sie markierte gleichzeitig die Abkehr vom romantischen Ballett und dem von ihm geprägten ätherischen Frauenbild. Aus der Fee und Sylphide wurde die Kämpferin, eine ferne Schwester Penthesileas.

Den entscheidendsten Schnitt und Bruch mit der Vergangenheit aber löste eine "Sylvia"-Produktion in St. Petersburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus. Diaghilew wurde 1900/01 mit der Oberaufsicht über eine Neuinszenierung am Mariinsky-Theater betraut. Er wählte "Sylvia". Da ihm die Direktion jedoch nicht völlige Freiheit bei der künstlerischen Realisation ließ – zu seinem "Dreamteam" gehörten da schon die Maler Bakst und Benois –, kam es zu Spannungen, er wurde entlassen und suchte von da an nach anderen Möglichkeiten und Orten, um seinen Traum von Theater zu verwirklichen. Wäre er ohne diesen Bruch ins Ausland gegangen? Hätte er ohne diese Enttäuschung 1909 die Ballets Russes nach Paris gebracht? Im Grunde ist "Sylvia" indirekt zum Schlüsselwerk für unsere heutige Moderne geworden.

Trotzdem interessiert uns an "Sylvia" weniger seine Geschichte, seine kulturhistorische Handlung oder seine ursprüngliche Choreografie, es ist die Musik, die anspricht. Sie ist unüberhörbar von Richard Wagner beeinflusst, scheut manchmal nicht die schlimmsten Ballettklischees des 19. Jahrhunderts und hat doch Poesie und vor allem Sinnlichkeit.

Muss man eine Geschichte dazu erzählen? Und welche? Die von Torquato Tasso, auf dessen Schäferdrama "Aminta" das Ballett basiert? Eins ist klar, das "kitschige" Libretto von Jules Barbier und Baron de Reinach ist heute ganz unsinnig. Kann es denn nicht etwas ganz Einfaches sein? Tanzbilder von einer starken, sportlich-kämpferischen Frau, die, hin und her gerissen zwischen Kraft und Verletzlichkeit, nur schwer eine Balance findet zwischen Angriff und Zartheit, Panzerung und Hingabe, die erst Sinnlichkeit erfahren und Leidenschaft durchleben muss, um die einfache, schlichte Liebe zu entdecken. Als ich bei Tasso nachlas, empfand ich das mythische Moment spannender als das erzählerische Element, den Mythos gültiger als die späteren Metamorphosen. Und es erschien mir nur natürlich, auch zur Musik auf eine gewisse Distanz zu gehen und dem Werk jenen Touch von Operette zu nehmen. Stattdessen die Suche nach Tanzbildern, Bewegungen und emotionalen Situationen, die einen fast schockierenden Dialog mit der Musik wagen.

Auch wenn ich nicht die antike Welt heraufbeschwören wollte, nicht Hellas, nicht Rom, so war ich doch glücklich, einen großen griechischen Bühnenbildner zur Seite zu haben, Yannis Kokkos, dessen blauer Baum vor grüner Wand Paul Éluards "La terre est bleue comme une orange" evoziert. Umkehr und Verkehrung der Farbe, das ist Kokkos’ große Poesie – und die von "Sylvia".


Musik: Léo Delibes
Choreografie und Inszenierung: John Neumeier
Bühnenbild und Kostüme: Yannis Kokkos

2 Stunden 15 Minuten | 1 Pause
1. Teil: 60 Minuten, 2. Teil: 50 Minuten

PREMIERE:
Ballet de L'Opéra national de Paris, Paris, 30. Juni 1997
PREMIERE IN HAMBURG:
Hamburg Ballett, 7. Dezember 1997

ORIGINALBESETZUNG:
Sylvia: Monique Loudières
Diana: Elisabeth Platel
Aminta: Manuel Legris
Eros/Thyrsis/Orion: Nicolas Le Riche
Endymion: José Martinez

GASTSPIELE:
1998 Frankfurt-Höchst, Ludwigshafen 2000 Rio de Janeiro, São Paulo 2009 Baden-Baden 2023 Tokio

IM REPERTOIRE:
Ballet de l'Opéra national de Paris
Ballett am Rhein
Dutch National Ballet
Finnisches Nationalballett
Joffrey Ballet

Das Programmheft ist in unserem Onlineshop erhältlich

[MEHR]
ZUM INHALT
von John Neumeier

I
Die Kunst des Bogenschießens

Eine Frühlingsnacht im magisch hellen Mondschein.

Die Göttin Diana und ihre Gefährtinnen auf der Jagd.

Gott Eros steigt herab in Dianas heiligen Hain und nimmt die Gestalt des Schäfers Thyrsis an.

Die Atmosphäre des Waldes. Wesen und Stimmung.

Der Schäfer Aminta dringt in den geweihten Wald ein – in der heimlichen Hoffnung, wieder auf Sylvia zu treffen, eine Nymphe aus Dianas Gefolge.

Diana - die Keusche – und ihre jagenden Gefährtinnen erscheinen, um im See zu baden und sich von der Jagd auszuruhen.

Sylvia ist Dianas liebste Nymphe und die beste Bogenschützin.

Diana und ihre Jagdgefährtinnen brechen auf zum Bad.

Sylvia trifft Aminta.

Diana und ihre Gefährtinnen überraschen die beiden. Völlig überrumpelt verrät Sylvia den Schäfer.

Allein zurückgeblieben, überfällt Diana die Erinnerung an den schönen Endymion und ihre Liebe zu ihm.

Endymion, von ewigem Schlaf umfangen.

Voller Neugier betreten die Schäfer bei Tagesanbruch den heiligen Hain und finden den schlafenden Endymion. Unter ihnen ist auch Eros, noch trägt er die Züge von Thyrsis, dem Hirten.

Amintas Herz ist gebrochen. Sylvias Bild verfolgt ihn. Eros hat Mitleid mit ihm.

Um Sylvia zu verführen und ihre Fähigkeit zur Liebe zu erwecken, schlüpft Eros nun in die Gestalt des schönen Orion. Mit ihm verlässt die Nymphe den heiligen Wald.


II
Im Reich der Sinne

Eine laue Nacht. Sommer. Spätsommer.

Orions Welt, das Fest des Eros. Sylvia wird sich ihrer Weiblichkeit bewusst, ihre Sinne erwachen.

Ihre Sinnlichkeit erblüht. Der Gedanke an Aminta, den Schäfer, lässt sie nicht los.

Dennoch taucht plötzlich auch die Erinnerung an Diana auf - ein leises Echo früheren Lebens.

Orions Weite. Der Reigen.


III
Wintersonne

Nach vielen Jahren kommt Aminta wieder in den heiligen Wald.

Die Atmosphäre des Waldes. Wesen und Stimmung.

Auch Sylvia zieht es in den geweihten Hain. Sylvia und Aminta sehen sich wieder.

Diana beobachtet sie zornig. Eros entwaffnet die Göttin.

Diana bleibt allein zurück, die ewige Jägerin.

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